Nie angekommen - aber mit Turbolader

Vieles wirkte wie Chaos. Manche nannten es Sprunghaftigkeit. Ich nenne es heute: ein Nervensystem ohne Filter - und ein Leben, das sich seinen eigenen Weg gesucht hat.

Dies ist ein zusammenhängender Text, der auch abschnittsweise gelesen werden kann:

Person mit den Händen am Kopf blickt auf eine chaotische Landkarte mit Begriffen wie „Stillstand“, „Umzug“ und „Absturz“.

Flucht, Ideen, Umzüge - kein Halt in Sicht

Früher dachte ich, ich sei einfach „anders“.
Später dachte ich, ich sei einfach „kaputt“.
Heute weiß ich: Ich bin neurodivergent - also jemand, dessen Gehirn Reize anders verarbeitet, anders verknüpft, anders bewertet. Klingt erstmal harmlos. Ist es aber nicht. Jedenfalls nicht, wenn man über vier Jahrzehnte lang keine Ahnung hat, dass es so ist.
Und wenn ich mein Leben betrachte, dann ist es eine Landkarte aus Umzügen, Abbrüchen, Neustarts, Fluchten, Ideen, Wut, Euphorie - und dem, was andere „Unruhe“ nennen. Ich nenne es mittlerweile mein Betriebssystem.

 

Orte
Ich habe viele Motorräder und Musikinstrumente gewechselt - und noch öfter die Wohnungsschlüssel. Jeder Umzug war wie ein kleines Aufatmen - bis das neue Umfeld wieder zu laut, zu eng oder zu falsch roch. Dann weiter. Ich bin kein Nomade. Ich funktioniere wie ein Alarmgerät - alles wird schnell zu viel.

 

Berufe
Ich bin Lehrer. Früher verbeamtet, freiwillig gekündigt. Mittlerweile in Teilzeit angestellt. Und selbst das fühlt sich oft wie ein Fulltime-Crashkurs in Reizüberflutung an.
Davor, danach und dazwischen: Ideen ohne Ende.
Pilotenschein? Begonnen.
Holzbildhauer in den Bergen? Recherchiert.
Therapiehundausbilder? Fast.
Digitale Schulmaterialien mit KI-Integration? In Planung.
KI-Roboter? Im Prototyp.
Ich bin nicht flatterhaft. Ich arbeite viel - aber nie in gleichmäßigen Phasen. Zwischen Highspeed-Flow und totaler Erschöpfung. Von außen wirkt das manchmal extrem - und auf manche sogar beeindruckend. Innen fühlt es sich eher nach Flucht vor dem Ersticken an.
Und mittendrin dieser eine Drang, der oft alles noch schwieriger macht: (siehe unten)

 

 

 

Nicht faul. Nicht dumm. Nur falsch gelesen.

Ich will Menschen wirklich verstehen. Tief. Ehrlich. Unverstellt. Ich frage nach Dingen, die andere für sich behalten. Ich höre Zwischentöne, die andere übergehen. Ich spiegele - nicht um zu verletzen, sondern weil ich verstehen will.
Aber das überfordert. Es macht Angst. Menschen fühlen sich ertappt. Durchleuchtet.
Was als echter Versuch gemeint ist, Nähe herzustellen, wirkt auf andere wie ein Angriff. Wie Übergriffigkeit. Dabei will ich nur eines: echtes, tiefes Verstehen.


Und wer jetzt denkt, ADHS bedeute, nichts zu Ende zu bringen - vergesst es.
Ich habe aus einem ziemlichen Chaos heraus eine handwerkliche Ausbildung abgeschlossen, einfach weil ich nicht wusste, wohin mit mir. Danach habe ich mein Abitur nachgeholt. Und studiert. In meinem eigenen Rhythmus, ohne große Präsenz, ohne Rückhalt - niemand hätte damals gedacht, dass ich das überhaupt schaffen könnte.
Aber ich habe es geschafft. Ich habe mein Referendariat durchgezogen, trotz massiver innerer Konflikte, Anpassungsdruck und Erschöpfung.


Ich will nur sagen: Eure Kinder, eure Bekannten, eure Schüler (oder DU SELBST) mit diesem „komischen Verhalten“ - sie sind nicht zwangsläufig „zu langsam“, nicht zwangsläufig „zu dumm“, nicht zwangsläufig „zu faul“. Sie sind nicht selten das Gegenteil. Nur leider in einem System, das nicht für sie gebaut wurde.

Beziehungen, gesellschaftliche Anpassung, Therapieversuche

Auch ein Kapitel. Oder mehrere:

Ich war oft verliebt - und hatte Partnerinnen, die viel mitbrachten: Klugheit, Stärke, Tiefe. Es lag nicht an ihnen. Es lag auch nicht nur an mir. Es lag am System. Meinem.
Zu viel Input. Zu viele unausgesprochene Erwartungen. Zu wenig Regulation.
Ich habe heute verstanden: Ich wollte Nähe, aber mein Nervensystem hat oft geschrien, wenn sie da war. Ich wollte Beziehung - aber mit Fluchttür. Das funktioniert nicht. Nicht in dieser Welt. Und nicht für diese Frauen. Leider.


Was bleibt, ist der Blick auf mein Umfeld: Mein Freundeskreis - viele davon mit Familien, Kindern, Bodenhaftung. Ich? Patenonkel, ja - mit Kindern kann ich wunderbar.
Aber ich war zu oft entwurzelt. „Frei“ wirkte das - war aber oft einfach nur ungebunden und getrieben.
Heute schmerzt es manchmal, dass ich selbst keine Familie gegründet habe. Ohne Schuldzuweisung, aber ehrlich gesagt: Mit früherer, richtiger Begleitung - ich hätte das vermutlich geschafft.

 

Gesellschaftliche Anpassung
Ich war nicht immer gut darin, unauffällig zu bleiben.
Im Gegenteil: Grundschule - verhaltensauffällig. Reinrufen, Aggression, Unruhe.
Es folgten Schulwechsel, 2x Sitzenbleiben, Klassenkonferenzen, Rauswürfe. Und ich bin Lehrer geworden. Witzig, oder?
Erst später lernte ich selbstständig und unbegleitet, wie man sich anpasst. Wie man nicht auffällt. Wie man „funktioniert“, solange keiner zu tief schaut. Ich wurde gut darin, nicht negativ aufzufallen - bis ich auffiel.
Und dann fiel ich tief. In neue Umfelder, neue Jobs, neue Ideen. Immer mit dem heimlichen Wunsch: Jetzt bleibe ich. Jetzt wird alles ruhiger. Aber das war es nie.
Denn: Wenn du nicht weißt, was in dir tobt, suchst du immer draußen nach der Lösung.

 

Therapieversuche
Schon in der Grundschule schickte man mich mit meinen Eltern zu einer Art „Erziehungsberatung“. Es blieb ergebnislos.
In der Pubertät - große Liebe, aber merkwürdiges Verhalten. Ich suchte selbst Hilfe, ging zu einer psychologischen Jugendberatung. Wieder: viele Worte, kein Ergebnis.
Später - nach dem freiwilligen Ausstieg aus der Lebenszeitverbeamtung - fühlte ich erneut, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich war selbstständig, betrieb eine Webseite mit wachsendem Erfolg - und ließ sie aus heiterem Himmel wieder fallen.
Nicht aus Desinteresse. Aus plötzlicher, alles zersetzender Entfremdung.
Ich hatte 1000 Ideen - aber kein Vertrauen mehr in mich selbst. Nichts hielt. Alles verpuffte.
Also erneut: Therapieversuch. Da war ich bereits Ende 30.
Die Psychotherapeutin sagte irgendwann: „Haben Sie sich mal mit ADHS beschäftigt?“ 

Ich? ADHS? Am Arsch! 
Ich brach die Therapie ab. Vorurteile, Selbstschutz, und - wie sollte es anders sein - ich stand kurz vor einem Umzug in ein anderes Bundesland.

 

Glück, aber auf wackeligem Grund
Trotz allem: Ich kann Glück empfinden. Sogar sehr großes.
Auch Ruhe. Auch Schönheit. Auch Dankbarkeit.
Aber sie werden zu oft gestört - von innen wie von außen. Mein Kopf ist selten ganz leise. Irgendetwas funkt immer dazwischen - als würde mein Nervensystem auf die nächste Störung warten.
Vielleicht schützt mich meine Persönlichkeit vor schweren Depressionen. Ich rutsche manchmal tief - aber ich bleibe selten unten.
Was fehlt, ist nicht der Lebenswille. Was fehlt, ist ein Ort, wo ich bleiben kann, ohne mich zu verlieren.

Verschnörkelte Landkarte in Graustufen mit Bergen, Wäldern, Flüssen, Brücken, Zelten, Häusern und Burgen - ohne klare Richtung.

Ich bin nicht angekommen - aber ich sehe klarer

Und dann kam die Erkenntnis: Doch ADHS.
Nicht als Ausrede. Sondern als Erklärung. Für die innere Zerrissenheit. Für den Reizfilter, der keiner ist. Für die Gedanken, die sich in zwölf Richtungen verzweigen, während andere noch den Einstieg suchen.
Für die Sätze, die nie zu Ende gesprochen werden, weil das nächste Gefühl längst brennt.

 

Heute?
Nein, heute ist nicht alles gut.
Aber heute ist ehrlich.
Ich brauche keine falschen Erklärungen mehr. Keine Beziehungsratgeber, keine Umzugstipps, keine Coaching-Videos zur Lebensplanung.
Ich brauche Klarheit über mein System - und Orte, Menschen, Umgebungen, die es nicht dauernd in Brand setzen.
Ich weiß nicht, wo ich am Ende ankommen werde.
Aber ich weiß inzwischen, warum ich so oft losgelaufen bin.
Und das allein ist ein gewaltiger Unterschied.

 

Und heute? (Teil 2)
Bin ich wieder Lehrer.
Nicht aus Überzeugung, nicht aus Berufung - sondern, weil es das war, was übrig blieb.
Weil irgendwann auch die rebellischste Biografie einen Punkt erreicht, an dem sie sich irgendwie versorgen muss.
Ich mache den Job.
Mal gut. Mal besser. Mal mit angezogener Handbremse. Wie jeder.
Aber innerlich weiß ich: Das hier ist nicht mein Ziel - es ist eine Zwischenlandung.
Ich bin nicht angekommen. Ich bin notgelandet - weil es nicht mehr anders ging.


Und trotzdem:
Die Schüler.
Sie sind oft die letzten, die mich wirklich sehen.
Aber: Sie sind direkter, ehrlicher, menschlicher als viele Erwachsene im System - ich kann mit ihnen gut umgehen, und sie mit mir.
Sie fragen nicht nach Lücken im Lebenslauf.
Sie spüren einfach, ob da vorne jemand steht, der nicht spielt.
Das ist das, was mich noch hält.
Aber auch das wird nicht ewig tragen.
Denn ich will raus.
Nicht aus Trotz. Nicht aus Flucht.
Sondern aus der Sehnsucht, endlich irgendwo hinzugehören - ohne mich zu verbiegen.
Ich bin nicht faul. Ich bin nicht sprunghaft.
Ich bin anders verdrahtet.

 

Ich will nicht länger gegen mein System arbeiten - sondern mit ihm.

 

 

(Es geht nicht um "Kündigungswünsche", es geht um das Erleben mit ADHS. Um das stetige Gefühl des Nichtankommens. Und um die Handlungen, die aus diesem Gefühl resultieren können. Was hier fehlt, habe ich anderswo geschrieben - kürzer, roher, ungeschützter. Manchmal wärmer. Siehe Rubriken).

 

 

Ohne Anekdoten, nur Fakten:

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