Wer sagt mir eigentlich, wer ich bin?

Ein Satz von außen - und du zweifelst an dir selbst.

Über Jahrzehnte habe ich mehr gespürt, wie ich wirke - als gewusst, wer ich bin.

Ein gezeichneter Mann mit langen Haaren und Brille blickt in einen Spiegel. Im Spiegelbild wirkt er erschrocken und verunsichert.

Man könnte den Text mit folgender Erinnerung beginnen:

„Wir wissen nicht, was mit ihm los ist.“
Das war der Satz, den meine Eltern nach jedem Elternsprechtag mit nach Hause brachten.
Und nach jedem Anruf der Klassenlehrerin. 

Dies ist ein zusammenhängender Text, der auch abschnittsweise gelesen werden kann:

Fremdurteile statt Selbstbild

Fremdwahrnehmung - Selbstwahrnehmung.
Zwei Begriffe, die für viele halbwegs deckungsgleich verlaufen.
Man kennt sich ja.
Und wenn nicht: Man entwickelt sich eben.
Rollenzuschreibungen? Klar. Die reflektiert man, nimmt an, lehnt ab. Aber mit einem inneren Maß.
Bei mir war da kein Maß.
Nur Fremdurteile.
Und der ständige Versuch, daraus irgendeine Form von Ich zu bauen.

Ich habe jahrelang darüber nachgedacht, wie ich wirke -
tief, oft, fast kreisend.
Aber es hat nichts geklärt.
Denn es kam nichts dazu.
Es veränderte sich nichts.
Nur der Kreis drehte sich weiter:
Was mache ich falsch?
Warum wirke ich so?
Habe ich überhaupt einen echten Charakter - oder nur Masken?

 

Kennst du das? Dieses Gefühl, als wärst du vor allem die Summe deiner Widersprüche - in den Augen anderer?

Frühe Verwirrung - gute Noten, kein Halt

Es ging früh los.
Grundschule. Ich war Klassenbester - durchgehend.
Und gleichzeitig aggressiv.
Unbegründet. Unverstehbar. Für andere. Für mich.
Ich rief ständig rein.
Ich schlug.
Ich bekam Schläge zurück.
Nicht immer aus Wut - manchmal nur, weil etwas raus musste.
Ein Kind, das sich nicht zuordnen lässt.
Hochfunktional.
Und dabei ein Störfaktor.

 

Eine pädagogische Vollkatastrophe.

 

Und ja - Klassenbester.
Das klingt nicht nach ADHS, ich weiß.
War’s vielleicht auch nicht. Oder eben doch - auf meine Weise.
Es hat mir jedenfalls nicht geholfen.
Kein Schutz. Kein Vorteil. Kein Verständnis.
Gute Noten können nichts retten, wenn keiner hinsieht.
Später kamen die Schulwechsel. Das Sitzenbleiben. Die Rauswürfe.
Nicht wegen Leistung - sondern wegen allem anderen.
Wegen mir.
Wegen dem, was niemand verstand,
und ich selbst am wenigsten.

Wenn Rückmeldungen dein Ich mitformen

Später dann die Sätze:
„Du willst immer im Mittelpunkt stehen.“
„Bewundernswert, wie du dich ständig neu ausprobierst.“
„Du übertreibst. So war das nicht gemeint.“
„Sag doch auch mal was. Du traust dich nie.“

 

Und immer wieder: „Wir wissen nicht, was mit ihm los ist.“


Und alles stimmte.
Und nichts stimmte.
Denn ich hatte kein Bild von mir, nur Rückmeldungen.
Und wenn du nicht weißt, warum du dich verhältst, wie du dich verhältst,
dann bist du auf Fremdwahrnehmung angewiesen.
Vor allem bei abweichendem Verhalten.
Und ich wich ab.

Ein Kind, das nicht verstanden wird, wird manchmal laut.
Oder still. Oder widersprüchlich.
Es findet oft keine Worte - für sich selbst am wenigsten.
Es kann sich selbst nicht mal sicher sagen, dass es falsch behandelt wird -
weil es keine Sprache dafür hat.
Kein Konzept.
Keine Diagnose.
Keinen Schutz.
Ich wusste es mit 40 immer noch nicht.

Ich weiß es jetzt.
Was nicht heißt, dass alles leichter geworden ist.
Aber es ist klarer.


Ich habe ADHS.
Vielleicht bin ich auch irgendwie klug.
Das hat sich nicht gegenseitig geholfen - früher schon gar nicht.
Klug sein schützt nicht.
Man merkt vielleicht früher, dass etwas nicht stimmt -
aber das hilft einem Kind auch nicht weiter.
Und wenn du es nicht benennen kannst,
übernimmst du das, was andere dir sagen.

 

Fremdwahrnehmung, über Jahrzehnte:
Du bist laut.
Du bist schwierig.
Du bist sprunghaft.
Du bist stark.
Du bist überempfindlich.
Du bist unberechenbar.
Du bist kreativ.
Du bist übertrieben.
Du bist still.
Du bist fordernd.
Du bist...
...alles - außer in Ruhe gelassen.

Späte Klarheit, früherer Schaden

Hätte ich früher gewusst, was mit mir los ist -
es wäre vieles milder verlaufen.
Nicht perfekt. Aber milder.

So aber habe ich über 40 Jahre lang immer wieder in derselben Gedankenspirale gelebt.
Warum bin ich anders?
Warum sagt man mir das?
Warum passt mein Inneres nie zum Außen?
Die positiven Zuschreibungen habe ich ignoriert.
Die negativen: aufgesogen.
Die einen wollten mich bestärken.
Die anderen glaubten mir nicht.
Und ich habe mich selbst irgendwann verloren -
im Versuch, jemand zu sein, den andere nachvollziehen können.
Ich weiß heute:
Ich war nicht falsch. Vielleicht einfach oft am falschen Ort.
Und das macht mehr aus, als man denkt.

 

Als Kind hätte ich nicht zuerst eine Erklärung gebraucht –
sondern jemanden, der da ist, wenn es keine mehr gibt.
Der zuhört, statt mich zu beschreiben.
Der aushält, wenn nichts mehr passt.
Und der nicht vergisst:
Es geht nicht darum, was ich war.
Sondern darum, wer ich hätte werden dürfen.



(Zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung entsteht bei ADHS oft ein Spannungsfeld, das mehr beeinflusst, als man denkt: Selbstwert, Beziehungen, Lebensentscheidungen - manchmal über Jahrzehnte hinweg. Wer mit unerkanntem ADHS lebt, sucht oft jahrelang nicht nach sich - sondern nach einem Spiegel, der nicht verzerrt.)

 

 

Ohne Anekdoten, nur Fakten:

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