Jamila - geh weg, bleib da
Eine Begegnung, die zeigt, wie impulsiv Nähe und Flucht kollidieren - besonders mit ADHS.


Ich war Gassigänger im Tierheim. Ehrenamtlich.
Da war Jamila. Fett, angespannt, aggressiv.
Ein belgischer Malinois (Schäferhund) mit Maulkorb und Teufelsblick.
Man hatte sie bei einem Umzug einfach zurückgelassen.
Sie lebte wohl zuvor jahrelang in der Wohnung.
Kaum Auslauf, kaum Bindung. Nur Wut.
Ich wurde gefragt:
„Traust du dir Jamila zu?“
Ich dachte: Nein.
Ich sagte: „Ja klar.“
Männlicher Reflex.
Ich nahm sie an die Leine. Sehr kurz. Keine Freiheit. Nur Kontrolle.
Ich hatte schlicht Angst.
Aber am nächsten Tag wollte ich sie wieder. Und wieder.
Nach zwei Monaten nahm ich ihr den Maulkorb ab -
und sie schaute mich an wie ein Hund, der vergessen hatte, wie Vertrauen geht.
Dann testete sie mich.
Kaute sich langsam die Leine hoch, in Richtung meiner Hand.
Ich war überfordert - und tat das Dümmste:
Leckerchen hinwerfen, Ablenkung nutzen, schnell den Maulkorb drüber.
Vertrauen kaputt.
Wieder Wochen Arbeit.
Aber es ging.
Irgendwann lagen wir in der Sonne.
Sie schmiegte sich an mich.
Sie war mittlerweile dünner, trotzdem „weicher“.
Vielleicht war sie genauso zerrissen wie ich - nur mit schärferen Zähnen.
Und ich dachte:
Wenn dich keiner will - dann nehme ich dich.
Nicht jetzt. Später vielleicht. Wenn’s sein muss. Wenn ich muss.
Aber solange dich keiner will, muss ich ja nicht.
Jamila blieb gefährlich. Nicht bei mir - aber bei anderen.
Unberechenbar.
Sie mochte keine Kinder. Keine Smartphones.
Keine plötzliche Nähe.
Ohne Maulkorb hätte sie sich irgendwann verbissen - vielleicht.
Vielleicht hätte man ihr das abtrainieren können.
Mit Vertrauen. Mit Beziehung.
Vielleicht.
Und ich wusste:
Ich will frei sein. Motorrad. Spontanität. Rückzug.
Nicht leinenführig durchs Leben.
Dann kam ein Interessent: still, freundlich, schäferhundverliebt, erfahren.
Die Tierheimleitung sagte:
„Du musst dich entscheiden - jetzt.“
Und alles raste los.
Ja. Nein. Ja. Ich schaffe das nicht.
Ich will sie. Ich will frei sein.
Ich will Nähe - und kriege Panik.
Ich will Verantwortung - aber nur, wenn ich weglaufen darf.
Ich will retten - ohne mich zu verlieren.
Ich kann nicht. Ich darf nicht. Ich muss. Ich zerreiße.
Ich sagte ab.
Monate später sehe ich sie im Wald. Mit ihm.
Er erkennt mich nicht.
Aber sie bleibt stehen. Guckt mich an. Verwirrt.
Ich gehe weiter. Mit unterdrückten Tränen in den Augen.
Danach bin ich nie wieder ins Tierheim gegangen.
Ich habe ihr wehgetan, ich habe mir wehgetan.
Jetzt geht es ihr gut - vielleicht.
Kein Happy End. Kein Schuldiger.
(ADHS beginnt oft nicht mit einem Test - sondern mit einer Geschichte wie dieser.)